Warum bringen Eltern ihr 4-jährigen Sprösslinge zu LogopädInnen und erhalten (neben mitleidigem Tuscheln) damit die volle Anerkennung ihrer elterlicher Fürsorge?
Würden sie ein Kind selben Alters in eine Dyskalulitherapie (Rechenschwäche) bringen, wäre ihnen der geballte Volkszorn gewiß.
Raub der Kindheit, Selbstverwirklichung im Kind oder schlicht Rabeneltern wären die noch freundlichsten Vorwürfe, die zu hören wären.
Warum ist die Mathematik bei unseren Kleinkindern ein gesellschaftliches Tabu? Warum glauben wir, dass wenn sich Kleinkinder mit Zahlen befassen, ihnen die Kindheit geraubt wird?
Woher kommen die Vorwürfe der Öffentlichkeit, Mathematik sei nicht kindgerecht?
Viele Erwachsene haben ihren eigenen Mathematikunterricht in negativer Erinnerung und wollen daher auch nicht, dass sich ihre Kinder zu früh einem solchen Thema ausliefern. (Wer erlaubt schon seinem Kind einen Hund, wenn man selber Angst vor Hunden hat?)
Manche haben auch Angst vor Vorwürfen von Seiten der Volksschule, der Schulstoff würde vorweggenommen, so dass für die LehrerInnen nichts mehr übrig bleibt.
Zur Information: In der Schweiz ist die Diskussion über einen Mathematik-Unterricht für Kinder ab 4 Jahren ein ganz selbstverständlicher Teil der Bildungsdiskussion.
Wenn ein Kind bis 5 zählen kann? Wenn es einfach um den Kinderwagen rumläuft und mitzählt?
Mathematik beruht auf dem griechischen manthanein oder mathano (ich lerne, erfahre). Kinder erfahren von Klein an beim Spielen (ein Ball), im sozialen Kontakt (wie viele sind wir?) beim Ausziehen (Jacke auf den Haken) beim Aufräumen (alle Sachen in den Kasten) ihre Welt und übersetzen sie in Worte und Zahlen. Überall steckt Mathematik drin (keine Schulmathematik), sondern eine informelle Mathematik, eben Fähigkeiten wie Mengebildung (alle Sachen) oder Eins-zu-Eins-Zuordnung mit Gegenständen (Jacke an den Haken hängen).
Kinder kommen von Geburt an also genauso selbstverständlich mit Mathematik in Berührung wie mit Sprache (oder Autos, oder Essen, oder ...).
Zerstören wir es nicht!
1. Mathematik ist eine Tätigkeit, eine Verhaltensweise, eine Geistesverfassung
(Spiegel und Selter, 2003)
Taschner (2007) beschreibt ein Beispiel:
Alexander,ein kleines Kind, erst knapp drei Jahre alt, liebt das Zählen über alles: Bewältigt er Stufen hinauf oder hinunter, zählt er sie. "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs." Ebenso die Teller auf dem Tisch, die Karten seines Memory-Spiels, die Stofftiere auf seiner Kommode - wo immer es etwa zu zählen gibt, ist er dabei.
Beim Rezitieren großer Zahlen - "... 64, 65, 66, ..." - sieht Alexander gar keine Dinge, die er abzählt, wenn er so zählt. Der Bub hat intuitiv begriffen, dass man Zahlen nennen kann, die nicht auf etwas Zählendes bezogen sind. Er zählt im wahrsten Sinne des Wortes an und für sich.
2. Mathematik heisst, Beziehungen herstellen (mathematische Relationen zwischen den Objekten bilden)
(Bombieri, 2001)
Irgendwann kommt Alexander bei 100 an und seine Eltern atmen auf: Mit dem Erreichen von 100 scheint das Zähl-Gebet ihres Sohnes ein Ende gefunden zu haben. Manchmal versucht er,noch weiter vorzustoßen: Mit Worterfindungen wie "Einshundert, zweihundert, ..."
Er weiß zwar nicht, wie es weitergeht, aber etwas ist ihm gewiss: Mit 100 ist das Zählen nicht beendet.
Alexander hat - ohne dies reflektieren zu können - all das erfasst, was in den Zahlen verborgen liegt:
- Dass sie in einer sturen Monotonie aufeinanderfolgen.
- Dass sie ohne Bezug zu etwas Sinnlichem "exisitieren".
- Dass es keine naturgegebene Grenze, keine "letzte" Zahl gibt .
Damit hat er intuitiv auch eine dritte Eigenschaft der Mathematik erfasst:
3. Mathematik heisst, Muster, Gesetz- und Regelmäßigkeiten erkennen
(Devlin, 1998)
Kinder sind von klein an fasziniert von Mustern:
geometrischen oder akustischen Mustern (rattern eines Stäbchens am Zaun entlang), Bewegungsmustern (wippen), Handlungsmustern (Ritual vor dem zu Bett gehen) oder Zahlenmustern (Perlen auffädeln, abwechselnd zwei rot, zwei blau, ...)
Zum Schluß:
Die Mathematik genießt den Ruf, eine präzise Wissenschaft zu sein. Sie mag abstrakt wirken und ist für viele Menschen im Alltag kaum anwendbar, erfreut sich aber trotzdem einer ungebrochenen Autorität.
Das Ergebnis einer Rechenaufgabe ist entweder richtig oder falsch, und es gibt - sehr zum Leidwesen vieler SchülerInnen - nichts dazwischen. Ob Wissenschaft, Technik oder Alltagsleben, was richtig "berechnet" worden ist, muss auch richtig sein.
(Ketteler,1997)
Obfrau Sonja Rankl 0676 32 64 634